Gedanken aus dem Wartezimmer

Hallo! Das Wort „Service“ ist ein dehnbarer Begriff, besonders in einem Haushaltsnotlageland. Wie dehnbar, das teste ich gerade (unfreiwillig) im sogenannten „Bürger Service Universität“ (BSU). Im Fokus steht bei dieser Exkursion besonders die Flexibilität der Dimension „Zeit“ im Kontext des zu untersuchenden Begriffs. Es ist Dienstag und ich sitze schon zum zweiten Mal in diesem […]

Hallo! Das Wort „Service“ ist ein dehnbarer Begriff, besonders in einem Haushaltsnotlageland. Wie dehnbar, das teste ich gerade (unfreiwillig) im sogenannten „Bürger Service Universität“ (BSU). Im Fokus steht bei dieser Exkursion besonders die Flexibilität der Dimension „Zeit“ im Kontext des zu untersuchenden Begriffs.

Es ist Dienstag und ich sitze schon zum zweiten Mal in diesem Warteraum – ich war letzten Donnerstag gegen 11:30 Uhr schon einmal hier, aber das BSU schließt um 13 Uhr und um 11:30 gab es schon keine Wartenummern mehr. Also bin ich heute schon um 8:30 hier gewesen. 9 Uhr öffnet das BSU – dementsprechend lang war die Schlange bereits um 8:30…

Nach einer halben Stunde in der Kälte und weiteren zwanzig Minuten im Korridor konnte ich drinnen meine Wartenummer entgegennehmen. Vorher gab es noch etwas Verwirrung über die korrekte Schlange, weil diese nirgends ausgeschildert sind. Meine Nummer ist die 615 und im Moment ist Nummer 591 angezeigt. Das Wartezimmer ist heillos überfüllt – die Massen sitzen oder stehen herum, einige trinken Kaffee, andere lesen, wieder andere schlafen oder beten.

Alle fünf Minuten oder so erklingt ein heller Gong, dann verstummen die Gespräche und die Gesichter erhellen sich. Alle sehen auf die kleine rote LED-Anzeige mit den Nummern, 99% von ihnen werden enttäuscht, doch eine glückliche Person springt auf, rafft ihre Habseligkeiten zusammen und stürmt dem angezeigten Raum entgegen. Wenn keine Person aufspringt kommt kurze Zeit später ein dicklicher Mann in den Raum und ruft: „Hat hier jemand die Nummer 596? Wirklich niemand???“

Es ist mittlerweile 9:33 und ich bedaure, keinen Rasierapparat mitgenommen zu haben. Ich habe Angst, der Beamte wird später meine Passfotos aufgrund der geringen Ähnlichkeit mit der dann zu erwartenden Gesichtsbehaarung ablehnen. Leider habe ich keinen Fineliner mit, mit dem ich die Fotos nachträglich realistischer gestalten könnte.

Zeit für soziale Kontakte

Es ist schon sehr interessant, mit welch unterschiedlichen Menschen man hier in Kontakt kommt. Normalerweise hat man in der Universität nur Bekanntschaften mit Personen, die entweder im gleichen Fach oder im gleichen Studienjahr studieren, bzw. mit Mitarbeitern der Uni. Hier jedoch ist das Publikum ähnlich wie in einer Straßenbahn, nur dass man dort nie auf den Gedanken käme, sich zu unterhalten. Vermutlich weil selbst die längste Straßenbahnfahrt gegen die hiesige Wartezeit wie eine Halbzeitverlängerung anmutet. Hier im BSU tragen alle Menschen das gleiche Schicksal, das schweißt zusammen.

Es ist 9:43 und im Moment wird die Nummer 599 aufgerufen. Es ist also Zeit, überschlagsmäßig zu berechnen, wie lange es wohl noch dauern wird:

Ich habe meine Wartenummer um 9:20 erhalten. Zu diesem Zeitpunkt wurde Nummer 591 angezeigt. Die letzten 24 Minuten entsprechen also 8 Personen in der Reihe. Das macht drei Minuten pro Antragsteller – kein schlechter Schnitt! Es muss fairerweise erwähnt werden, dass davon zwei oder drei nicht erschienen sind. Meine Nummer ist die 615, bei drei Minuten pro Antragsteller heißt das, dass ich in 45 Minuten dran bin. Mit dieser frohen Hoffnung lässt sich das größer werdende Loch in der Bauchgegend gleich viel besser ertragen.

Kurzer Blick in die Tasche, ob ich an alle Unterlagen gedacht habe: Ich habe Mietvertrag, Reisepass, Personalausweis und Passfotos eingesteckt – nichts vergessen! Allerdings ist mein Personalausweis bereits abgelaufen und mein Reisepass wird es auch sein, wenn ich hier drankomme.

Der letzte Antragsteller (mit der Nummer 599) hat anscheinend mindestens zehn Minuten in Anspruch genommen und ich zweifle ein bisschen an meiner vorherigen Berechnung. Mal sehen, wenn weitere Daten verfügbar werden, werde ich sie aktualisieren.

Körperfunktionen schalten auf Notversorgung

Es ist 10:16 und bisher ist die LED-Anzeige nur bis 602 weitergekommen. Viele Menschen befinden sich in dem Dämmerzustand des Halbschlafes. Nur die wichtigsten Reflexe reagieren noch: Atmung, Herzschlag und das müde Aufschauen beim Gong, der die nächste Nummer ankündigt. Der Rest des Körpers befindet sich in verkrümmter Erschlaffung.

Oha, der nächste Gong, diesmal 603. Zeit für eine neue Berechnung der weiteren Wartezeit. Bisher sind 14 Antragsteller aufgerufen worden und es ist 10:20, d.h. die durchschnittliche Wartezeit pro Antragsteller hat sich auf 4 Minuten 20 Sekunden verlängert. Konnte ich bisher noch darauf hoffen, gegen 10:30 an der Reihe zu sein, verschiebt sich dieser Zeitpunkt auf nunmehr 11:10, vorausgesetzt natürlich, dass die Antragsteller im gleichen Rhythmus abgefertigt werden und dass keine unvorhersehbaren Ereignisse eintreten, wie zum Beispiel eine plötzliche Beschleunigung des Abfertigungsverfahrens durch koffeinhaltige Getränke für die Beamten oder eine Verlangsamung durch eine Kaffeepause/Mittagspause. Ich hoffe nur, vor Feierabend hier fertig zu sein. Bis dahin werde ich wohl oder übel auf Kannibalismus zurückgreifen müssen, um meinen Hunger zu befriedigen.

Das Ambiente dieses Wartezimmers ist sehr einprägsam: Die Wände sind in einem freundlichen beige-grauen Ton getüncht, eine Wand ist gekachelt, an den anderen sind Steckdosen- und Telefonleisten angebracht. Das Mobiliar besteht aus Holz- und Metallstühlen, jeweils bezogen mit einem ekligen grauen Stoffkissen. Die Stühle mit Metallgestell sind aufgrund ihrer inhärenten Flexibilität (sie schwingen ein bisschen) beliebter und werden schneller wieder besetzt, wenn sie frei werden. An der Wand hängt eine Mustertafel für Passfotos, in einer Ecke ist ein Fenster, welches an die Freiheit erinnert und die Neonröhren, von denen nur die Hälfte funktionieren, verströmen kuschliges, bläuliches Licht. Ein vergilbtes Hinweisschild rät davon ab, Handys zu benutzen.

Mir gegenüber sitzt jetzt eine junge Frau, deren Rastalocken beim Eintreffen bestimmt schwarz-gelb gefärbt waren. Jetzt spielen sie leicht ins hellgraue. Sie trägt eine Brille mit dickem Rand, verschiedene Piercings und liest einen englischen Roman, dessen Titel ich nicht erkennen kann. Wenn mich nicht alles täuscht hat sie ihn begonnen, als sie sich setzte und befindet sich jetzt auf den letzten Seiten (von geschätzten fünfhundert). Rechts von mir gibt es mehrere Anschlussbuchsen für LAN, Telefone, Wechselstrom und eine kleine grüne in einer mir unbekannten Form, welche mit „Meßerde“ beschriftet ist.

Allein Augen und Ohren sind noch hellwach

Draußen vor dem Fenster stehen die Massen, die es nicht ins Wartezimmer geschafft haben und darben. Wer weiß, ob sich diese armen Seelen jemals in einem der weichen Metallstühle erholen können. Der Fußboden besteht aus einem Linoleum Belag mit fast Dalí-schem Muster, welches die müden Augen der wartenden Antragsteller hypnotisiert. Die meisten haben sich wahrscheinlich schon damit abgefunden, für den Rest ihres Lebens unter einer Gelb-Beige-Blindheit zu leiden.

Es ist schon ein Segen, dass ich daran gedacht habe, meinen Laptop mitzunehmen. Anderenfalls würde ich wohl entweder der Apathie oder der Hysterie zum Opfer fallen. Letztere würde zumindest die Wartezeit verkürzen.

Es ist 10:40 und die LED-Anzeige zeigt die Nummer 606. Der letzte Gong liegt bereits so lange zurück, dass die friedlich schlummernden Höhlenmenschen verschreckt zusammengezuckt sind, als er eben ertönte. Nach meiner ursprünglichen Berechnung sollte ich bereits seit zehn Minuten an der Reihe sein. Wie töricht war ich doch damals!

Warum sitze ich eigentlich hier? Aus zwei Gründen: Erstens bin ich vor einigen Wochen umgezogen und habe es bisher versäumt, mich umzumelden und zweitens ist mein Personalausweis bereits seit mehreren Jahren abgelaufen und ich nutze die Gelegenheit, einen neuen zu beantragen.

Relikte aus dem 19. Jahrhundert

Die letzte halbe Stunde habe ich damit zugebracht, Solitär zu spielen, alte Fotos anzugucken und mich sonst wie zu beschäftigen. Die Rastafrau mir gegenüber hat ihr Buch mittlerweile beendet und stiert jetzt ziellos in der Gegend umher. Am Tisch gegenüber sitzt immer noch die gleiche Gruppe von Erstsemester-Studenten, die hier bereits vor mir waren. Ansonsten hat sich nicht viel getan. Die LED-Anzeige steht seit geraumer Zeit auf 608, nein ich berichtige mich, sie ist jetzt auf 609 gesprungen. Eine Studentin mit Kleidung aus dem neunzehnten Jahrhundert – vermutlich wartet sie bereits so lange – steht mühsam auf und verschwindet aus der Tür. Ihr Metallstuhl ist keine Zehntelsekunde später wieder besetzt.

Die Massen, die jetzt von draußen hereinkommen, sehen nass aus, vielleicht regnet es. Mir wäre jegliche Erfrischung recht und der Hunger nimmt mittlerweile auch ungeahnte Ausmaße an. Wenn ich meinen Mietvertrag nicht noch brauchen würde, hätte ich ihn vermutlich mittlerweile gegessen. Ich überlege, meinen Namen in die Wand zu ritzen, für die bedauernswerten Gestalten, die in den Jahren nach mir hier sitzen werden. Leider habe ich kein geeignetes Werkzeug parat, aber vielleicht lassen sich die Knochen meiner Vorgänger dafür verwenden.

Die LED-Anzeige springt auf 611 und es ist 11:20, d.h. wieder einmal Zeit für eine Berechnung der verbleibenden Wartezeit:

Bisher sind 20 Antragsteller drangekommen und das in 120 Minuten, d.h. dass jeder Antragsteller im Schnitt 6 Minuten braucht. Jetzt rächt es sich, dass ich in meiner ersten Berechnung die übersprungenen Antragsteller nicht berücksichtigt habe. Vor mir sind noch vier Antragsteller, d.h. 24 Minuten. Mit etwas Glück bin ich also gegen 11:45 dran.

Psychologische Grundlagen der Ämterführung

Die Anzeige steht auf 613 – nur noch zwei Personen vor mir! Langsam breitet sich ein freudiges Kribbeln in der Magengegend aus. Vielleicht ist das aber auch nur das Gefühl, wenn der Körper sich selbst verzehrt.

Ich vermute, dass die deutsche Bürokratie ihre Subjekte durch stundenlanges Warten gefügig machen will. Möglicherweise geht die Überlegung so: Wenn jemand zehn Minuten warten muss, kann er sich noch an sein Anliegen erinnern, nach dreißig Minuten verschwindet langsam die Erinnerung an das Wetter draußen. Bei Wartezeiten zwischen einer und zwei Stunden werden einige Menschen hysterisch oder aggressiv, d.h. dieser Zeitraum ist auch ungünstig. Nach einer Wartezeit von drei Stunden sind die meisten Antragsteller intellektuell und körperlich auf ein unterwürfiges Häuflein Elend reduziert worden, d.h. sie haben ihren Namen, den Grund ihres Kommens und große Teile ihrer mentalen Fähigkeiten zur Argumentation verloren. Sie befinden sich im idealen Zustand, einem Beamten zugeführt zu werden, der dann die erstbeste Gelegenheit nutzt, sie mit einem kurzen „Denn komm’Se wieder, wenn’Se besser vorbereitet sind!“ abzuwimmeln. Draußen werden die Antragsteller dann von einer ihnen gänzlich unbekannten Welt empfangen, welche nur Mitleid und Häme für sie erübrigen kann.

Die Anzeige steht auf 614, es ist 11:35. Ich werde jetzt meine Sachen einpacken und des nächsten Gongs harren.

Tschüss!


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